SAECVLA SPIRITALIA   32

Armin SIEBER: Deutsche Rhetorikterminologie in Mittelalter und früher Neuzeit. 1996. 352 Seiten, 9 Abbildungen.

Die Entstehung von Fachsprachen bzw. Fachterminologie nimmt im Rahmen der volkssprachlichen Gesamtentwicklung eine besondere Stellung ein. Im Verlauf der Bildungsgeschichte wurde das Deutsche immer wieder und stets auf unterschiedliche Weise mit dem lateinisch kodifizierten Bildungsgut der Wissenschaften sowie der antiken Denk- und Lebenswelt konfrontiert. Immer wieder haben Gelehrte und Übersetzer allen Unzulänglichkeiten der Volkssprache zum Trotz versucht, diese Sprachschwelle zu überwinden, indem sie antike Bildungsinhalte in deutsche Wörterbücher zu fassen versuchten.
Diese Arbeit untersucht den Gebrauch volkssprachlicher Rhetorikterminologie in Fachtexten des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Sie zeigt, wie das Kategoriensystem der Rhetorik in volkssprachlichen Fachtexten behandelt wird und wie dabei eine rhetorische Fachbegrifflichkeit in der Volkssprache entstand, welche Funktion sie im fachkommunikativen Vermittlungsprozess eingenommen hat und unter welchen Umständen sie im bildungsgeschichtlichen Prozess auftrat und wieder verschwand. Aufgeteilt in einen historischen und einen systematischen Hauptteil werden in dieser Abhandlung die frühesten deutschen Rhetoriken zunächst analysiert und unter historischen Gesichtspunkten untersucht, danach im Überblick auf ihre morphologische, textuelle und kontextuelle Strukturmuster, ihre Syntax und ihre Terminologiebildung hin überprüft.
Mit einer quellenspezifischen und einer terminologisch-systematischen Zusammenfassung, einem ausführlichen gegliederten Literaturverzeichnis und Registern.

»Zum untersuchten Bestand gehören fünf Rhetoriken: die ’Kleine althochdeutsche Rhetorik’ Notkers des Deutschen, i. e. ein Exkurs von acht Seiten, den er seiner Übersetzung von Boethius’ Abhandlung ’De consolatione philosophiae’ beigegeben hat — dieser Exkurs ist der erste rhetorische Fachtext in deutscher Sprache überhaupt; ferner Notkers Studie ’De arte rhetorica’, eine überwiegend lateinische Schrift mit deutschen Einsprengseln. Es sind dies die ersten systematischen Versuche in deutscher Sprache, rhetorische Zentralbegriffe einer terminologischen Nominierung zu unterziehen (um 1000). Hinzu kommen Friedrich Riederers ’Spiegel der waren Rhetorie’ von 1493, Typ Kanzleirhetorik, und Wolfgang Ratkes ’Allgemeine RednerLehr’ von 1619, die erste volkssprachliche Rhetorik des 17. Jahrhunderts. Hinzu zieht Sieber noch das 1534 erschienene deutschsprachige Dialektlehrbuch von Ortholph Fuchsberger ’Ain gründlicher klarer anfang der natürlichen und rechten kunst der waren Dialectica’, da ihm diese Abhandlung eine aufschlußreiche Ausweitung des Gesichtskreises verspricht: auch dieses Werk ist zweisprachig, deutsch mit lateinischen Marginalien, und führt eine Menge rhetorischer Begriffe an, die in die Dialektik eingegangen sind, eine stark rhetorisch ausgerichtete Dialektik.
Hier deuten sich Siebers Auswahlkriterien an: in den behandelten Werken müssen sowohl die volkssprachlichen Termini als auch die korrelierenden lateinischen Begriffe aus der Quelle direkt oder indirekt ersichtlich sein. Das heißt, entweder muss die Quelle zweisprachig sein, oder es muss sich bei Übersetzungstexten die begriffliche Entsprechung in der lateinischen Vorlage finden. Diesen Maßgaben genügen die angeführten Texte. Die Untersuchung ist solide gearbeitet, sauber in ihren Methoden. Wo sie helfen kann, hilft sie dem Leser. Die lateinischen und althochdeutschen Partien sind übersetzt. Die Diktion allgemein ist verständlich. Angenehm fällt auf, wie vorsichtig Sieber in seinen Urteilen ist. Er scheut sich vor Verallgemeinerungen und deutet solche Möglichkeiten nur an. Das ist vernünftig. Ein weiterer Vorzug der Arbeit liegt darin, daß sie sich zu beschränken weiß. So etwas schafft Klarheit. Sieber nennt jeweils Erweiterungsmöglichkeiten, weitere Forschungsfelder, z.B. die Argumentationslehre oder die Briefstellerliteratur, geht aber — bewußt und richtigerweise — nicht darauf ein.«

Michael Thiele in Fachsprache, 21. Jahrgang. Heft 1-2/1999.
Seiten 76-78.

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